Genuss will gelernt sein
Wie so vieles andere ist auch der wahre Genuss nicht so einfach zu erreichen. Viele Menschen können es gar nicht mehr. Anhedonie, die Unfähigkeit, das Leben zu genießen und Freude zu empfinden, ist heute sogar eines der auffälligsten Symptome in der Psychiatrie, vor allem bei den gutgestellten und materiell wohlversorgten Menschen. Wer darunter leidet, hat das Genießen entweder mit fortschreitendem Wohlstand und Überfluss verlernt, oder aber er hat es schon als Kind nicht gelernt. Genuss geht zwar mit Lust einher, aber nicht jede Lust ist genießerisch. Nicht umsonst gibt es mittlerweile in Deutschland eigene Genusstrainings, bei denen Menschen in Gruppen- oder auch Einzelsitzungen lernen, wieder Spaß am „komplexen Verhaltensmuster Genießen“ zu finden, wie der Ernährungspsychologe Iwer Diedrichsen es nennt.
Grundsätzlich sind fünf Faktoren dafür entscheidend, ob wir etwas intensiv genießen - hier die Kurzfassung (ausführlich dazu in meinem Buch "Wo die Seele auftankt". S. 100 ff.).
Lassen Sie sich Zeit
Wer genießen will, braucht Zeit. Unsere Sinneswahrnehmungen und Gefühle brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Und Genuss wird nun mal primär über unsere Sinne, über das Schmecken, Riechen, Sehen, Fühlen oder Hören wahrgenommen. Auf die Schnelle und unter Zeitdruck ist es kaum möglich, die Köstlichkeit einer Speise, den Duft eines blühenden Lavendelfeldes oder das Gefühl, von einem Kind zärtlich umarmt zu werden, auszukosten. Für den Genießer gilt „Slow Food statt Fast Food“. Nehmen Sie sich also Zeit: für einen Spaziergang in schöner Natur, für eine herrliche Mahlzeit. Am besten planen Sie auch schon für die Zubereitung der Speisen Zeit ein, um diese dann in Ruhe und bewusst zu genießen.
Lassen Sie sich nicht ablenken
Um etwas tief und intensiv zu erleben, ist es wichtig, mit seiner Aufmerksamkeit ungeteilt dabei zu sein und sich nicht gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen. Man kann nicht „nebenbei“ genießen. Egal, ob Sie eine Massage, ein Konzert oder eine Mahlzeit genießen: Lassen Sie sich nicht ablenken. Beim Essen gilt: Wenn Sie gleichzeitig fernsehen oder Zeitung lesen, entgeht Ihnen leicht, was und auch wie viel Sie zu sich nehmen (Stichwort Multitasking - geht ja bekanntlich nicht). In der Regel essen Sie dann sogar mehr und büßen es womöglich auf der Waage. Denn nebenbei Gefuttertes registriert das Gehirn nicht. Wer bewusst isst, wird dagegen erfahrungsgemäß weniger essen.
Geben Sie sich die Erlaubnis zum Genuss
Genuss und schlechtes Gewissen schließen sich aus. Natürlich kann es den Reiz einer Sache steigern, etwas „Verbotenes“ zu tun. Das scheint für Kinder wie für Erwachsene zu gelten. Doch wenn man schon „sündigt“, dann ist die eigentliche Sünde, es mit schlechtem Gewissen zu tun, denn damit bringt man sich auch noch um den Genuss! Und wirklicher Genuss ist eben nicht schädlich, sondern gesund. Der klassische Stimmungsmacher Schokolade, der von vielen Menschen der hohen Kalorienzahl wegen nur verstohlen und mit schlechtem Gewissen gegessen wird, erhöht beispielsweise aufgrund seiner Zusammensetzung den Endorphin- und Serotoninspiegel im Gehirn. Ob Nougatpraliné, Pommes mit Majo oder die gelegentliche Cohiba nach einem besonders guten Essen – wenn schon, dann bitte mit Hingabe! Der Mensch wird krank, wenn er sich alles Lustvolle verbietet. Entscheidend sind eher die Menge und Häufigkeit. Achten Sie also lieber darauf, nicht dauernd zu „sündigen“.
Wählen Sie, was Ihnen wirklich gut tut
Jeder Mensch hat andere Neigungen und Vorlieben, die völlig unabhängig sind von allen allgemeingültigen Empfehlungen und Modetrends. Finden Sie heraus, was Ihnen gut tut, was Ihnen Lust und Spaß macht, was Sie selber wirklich genießen können – und gönnen Sie es sich! Mit der Zeit werden Sie Ihre Sinne, ob nun Geschmack-, Geruchs-, Tastsinn, Gehör oder Ihr Sehen immer verfeinern und genauer herausfinden, was Ihren Genuss steigert oder schmälert, wie auch ein Feinschmecker oder Weinkenner mit den Jahren immer genauer weiß, was er aus der Speise- oder Weinkarte wählen will. Oft mögen es auch ganz einfache Dinge sein: ein frisches Brot, ein Stück Käse mit ein paar Oliven und ein Glas Landwein in der richtigen Atmosphäre können für einen Kenner so manches Sternemenü in einem Nobelrestaurant übertreffen. Genuss und Luxus müssen nicht Hand in Hand gehen - entscheidend ist Ihre persönliche Präferenz.
Genuss lebt von Verzicht
So merkwürdig es zunächst klingen mag: Ohne Verzicht, ohne eine gewisse Entbehrung ist wahrer Genuss gar nicht möglich, das erkannten schon die Epikuräer im alten Griechenland. Sie befanden, dass nur so viel Genuss erlaubt sein sollte, dass künftige Freuden nicht gefährdet würden. Wahre Glückseligkeit beruhe nicht auf grober Sinneslust, sondern auf einer guten Balance von Genuss und Selbstbeherrschung. Eine zeitweilige Askese steigere den Erlebniswert des vorübergehend entbehrten Gutes. Je größer die Entbehrung, umso intensiver der Genuss.
Der bewusste Verzicht ist daher kein Verzicht gegen etwas, keine Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse, sondern ein Verzicht für etwas, nämlich für ein intensiveres Genießen zu einem späteren Zeitpunkt. Diese Weisheit liegt auch den Fastenzeiten zugrunde. Die Kunst des wahren Genießens besteht also in der richtigen Balance von Verzicht und Genuss.