Warum Multitasking im Straßenverkehr so gefährlich sein kann
Der Grundsatz lautet: Unser Gehirn kann sich mit voller Aufmerksamkeit nur einer Sache widmen.
Allerdings gibt es zwei wichtige Unterscheidungen zu berücksichtigen: automatisierte Handlungen und bewusste Handlungen. Tätigkeiten, von denen eine so automatisiert ist oder so weit in den Hintergrund rückt, dass man einer anderen seine volle Aufmerksamkeit schenken kann, lassen sich bis zu einem gewissen Grad gleichzeitig ausführen. So kann man beispielsweise bei der Gartenarbeit Musik oder beim Abwaschen Nachrichten hören. Auch beim Fernsehen zu essen ist möglich, fraglich ist nur, ob man hinterher auch noch weiß, wie das Essen geschmeckt hat. Und ein wichtiges Telefonat lässt sich auch beim Autofahren führen.
Wirklich? Sie merken schon: Hier fängt es an kritisch, ja sogar gefährlich zu werden, wenn die Aufmerksamkeit für den Straßenverkehr als zweitrangig in den Hintergrund tritt. In seinem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" liefert der amerikanische Psychologe Daniel Kahneman eine gute Erklärung dafür: Wenn wir etwas wirklich gelernt haben und automatisiert ausführen können, ohne uns bewusst damit zu beschäftigen, gibt unsere (langsam denkende) bewusste Steuerungszentrale im oberen Großhirn die Ausführung dieser Tätigkeit an das schnell denkende Zwischenhirn ab. Daher können wir Autofahren, Zähneputzen, den Abwasch erledigen, Essen und ähnliche Aktivitäten nebenbei erledigen, ohne ihnen bewusste Aufmerksamkeit zu widmen.
Was aber nicht mehr geht, ist die bewusste und gleichzeitige Bewältigung von zwei konkurrierenden motorischen, optischen oder sprachlichen Leistungen. So kann man sich nicht gleichzeitig auf einen Punkt oben rechts und unten links konzentrieren oder einen Artikel schreiben und gleichzeitig Nachrichten hören. Vor dem Fernseher im Internet zu surfen ist für das Gehirn ebenso eine komplette Überforderung: Wenn man während des Tatorts gleichzeitig nach dem neuen iPhone oder dem kommenden Urlaubsziel googelt, wird man vom Film hinterher wahrscheinlich nur noch Bruchstücke in Erinnerung haben.
Vor diesem Hintergrund stellt sich Multitasking im Straßenverkehr als sehr problematisch dar. Mutmaßliche Ursache des schweren Zugunglücks von Bad Aibling im Februar 2016, bei dem zwölf Menschen starben und 84 verletzt wurden, war nach Ermittlungen ein Online-Computerspiel, das den Fahrdienstleiter auf seinem Handy abgelenkt hatte. Schon im Juli 2013 entgleiste in Spanien ein Zug, weil der Zugführer am Telefon mit einem Kollegen plauderte und so vergaß, rechtzeitig die Geschwindigkeit vor einer Kurve zu drosseln. Die Konsequenz: 80 Tote und 144 Verletzte. Und ein ähnliches Zugunglück mit 25 Toten wurde 2008 aus den USA berichtet, der Lokführer war durch SMS-Korrespondenz abgelenkt.
Besonders im Straßenverkehr mehren sich die Unfälle, weil Autofahrer von ihren Smartphones oder Navigationssystemen abgelenkt werden. Neueste Studien haben ergeben:
- Das Unfallrisiko steigt (gegenüber einem konzentrierten Fahrer) um mehr als das Dreifache, wenn man am Steuer mit seinem Handy hantiert. Und das leuchtet ohne Weiteres ein, wenn man sich vergegenwärtigt: Wer bei Tempo 100 nur zwei Sekunden auf das Display schaut, ist 60 Meter im Blindflug unterwegs!
- Beim Schreiben einer SMS am Steuer ist das Unfallrisiko sechs Mal so hoch!
- Beim Eingeben einer Telefonnummer zwölf Mal so hoch!
- Auch die Bedienung des Navigationssystems erhöht das Risiko signifikant.
Doch auch Fußgänger sind gefährdet. Anfang März 2016 ging in München eine 15-Jährige auf die Straße, in den Ohren Kopfhörer, den Blick fest aufs Smartphone gerichtet. Die Straßenbahn hinter ihr bimmelte laut, aber sie hatte gegen die multimedialen Ablenkungen keine Chance. Die Schülerin wurde erfasst, mitgeschleift und starb an ihren Verletzungen. Smombies werden sie genannt (eine Kombination aus Smartphone und Zombies, 2015 zum Jugendwort des Jahres gekürt): Gestalten, die im Straßenverkehr nichts mehr wahrnehmen außer ihren Bildschirm, die chatten, statt nach rechts und links zu schauen, die daddeln und streamen, statt aufzupassen und rechtzeitig anzuhalten. Mit gesenktem Kopf laufen sie herum, versunken in einer anderen Welt. Die Angehörigen der „Generation Kopf-nach-unten“ werden auch als „digitale Fußgänger“ oder „Hans-guck-in-die-Hand“ bezeichnet. Die Anzahl der Mitglieder steigt ständig, die Unfälle mehren sich. Über 20 Prozent der Jugendlichen sind nach einer neuesten Studie der Dekra so auf den Straßen unterwegs, und wenn man sich selbst mal umsieht, ist man geneigt anzunehmen, dass es noch deutlich mehr sind. In Köln und Augsburg haben 2016 die Stadtwerke angefangen, mit Boden-Ampeln gegenzusteuern: Rote Blinklichter am Boden sollen verhindern, dass Handy-Nutzer die Straße bei Rot überqueren. Und in der chinesischen Millionenstadt Chongquing wurden auf den Gehwegen sogar Extraspuren für Smartphone-Nutzer eingerichtet. Aber eigentlich würde man erwarten, dass die Lösung dieses Problems auch aus der digitalen Welt kommt. Wenn es schon nicht gelingt, die Nutzer zur Vernunft zu bringen, so könnte doch eine entsprechende App dafür sorgen, dass das Display rot blinkt, wenn die Ampel rot zeigt, und so den Smombie rechtzeitig aufwecken!
Bis es so weit ist, sollten Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit folgende (an sich selbstverständliche, aber wohl in Vergessenheit geratene) Regeln beachten und Ihre Kinder ebenfalls dazu anhalten:
Am Steuer:
- Navi-Eingaben vor der Fahrt
- Telefonieren nur über Freisprechanlage
- Keine SMS lesen oder schreiben
Als Fußgänger:
- Augen nach vorne (nicht aufs Smartphone)
- Immer ein Ohr frei (keine „Stöpsel“ in beiden Ohren)