Ununterbrochen unterbrochen - warum der Unterbrechungskreislauf so verhängnisvoll ist
Mittwochvormittag, 11.35 Uhr. Jane kommt zu Marc ins Büro, um die bevorstehende Präsentation zu besprechen. Sie haben kaum angefangen, da klingelt Marcs Handy. „Sorry, Jane, das ist ein wichtiger Kunde … nur ganz kurz!“ – „Hallo, guten Tag, Herr Schorr, ich bin gerade in einem Meeting, kann ich Sie …? Ach so, ja, worum geht es denn?“ Während Marc spricht, checkt Jane schnell auf ihrem Smartphone ihre Nachrichten und beantwortet einige sofort, begleitet von einem: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Marc legt beschwörend den Finger auf den Mund und deutet auf sein Handy. Doch da klopft schon per Call-Waiting der nächste Anrufer an: Der Unterbrecheranruf wird unterbrochen. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Schorr, ich bin gleich wieder für Sie da …“ – „Hallo, guten Tag, ich bin gerade auf der anderen Leitung im Gespräch … ich melde mich … sicher! Ja, noch vor 15.00 Uhr!“ Halten macht’s möglich: Herr Schorr ist noch da. Während Marc mit ihm weiterspricht, poppt eine E-Mail auf, die er nebenher kurz überfliegt. „Unverschämtheit“, denkt er sich, und schon hat er die letzten zwei Sätze von Herrn Schorr verpasst. „Verzeihen Sie, was sagten Sie gerade? Ich war kurz abgelenkt.“ Da läutet das Tischtelefon, das zwar der Anrufbeantworter übernimmt, allerdings für alle gut hörbar. Genervt verlässt Jane den Raum, nicht ohne Marc einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Marc möchte am liebsten im Boden versinken – wer war da noch mal in der Leitung?
Der helle Wahnsinn? Vielleicht vor 15 Jahren, heute ist dies ganz normaler Büroalltag. Noch nie gab es so viele Unterbrechungen wie heute. Jeder kann jeden immer und überall erreichen – und folglich tut es auch (fast) jeder: Das ist die Unterbrechungslogik der modernen Kommunikationsmittel.
Durchschnittlich alle 11 Minuten werden Menschen am Arbeitsplatz unterbrochen
Anfang dieses Jahrhunderts wurde das Unterbrechungsproblem noch als Frage individueller Disziplinlosigkeit bagatellisiert, die der Einzelne nach dem Motto „Konzentriere dich aufs Wesentliche“ selbst in den Griff bekommen sollte. In den letzten zehn Jahren haben sich Unterbrechungen dagegen zum maßgeblichen Störfaktor der modernen Arbeitswelt entwickelt. Eine Fülle von Untersuchungen und Studien von Arbeitspsychologen und Effektivitätsforschern sowie zahlreiche Veröffentlichungen, Kongresse und Konferenzen bestätigen die ungebrochene Relevanz. Die ersten alarmierenden Zahlen kamen aus den USA, von der New Yorker Technologiefirma Basex und der University of California; britische Studien stützten diese Erkenntnisse:
- 588 Milliarden US-Dollar verliert die US-amerikanische Volkswirtschaft jährlich durch Unterbrechungenam Arbeitsplatz. Auf Deutschland übertragen wären das grob geschätzt über 100 Milliarden Euro pro Jahr, sofern man ähnliche Verhältnisse in der Arbeitswelt annimmt. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt hat ein Volumen von gut 300 Milliarden Euro – unsere Volkswirtschaft büßt also jährlich rund ein Drittel dieses Bundeshaushalts allein durch Unterbrechungen ein!
- Durchschnittlich alle elf Minuten werden Büromitarbeiter bei ihrer Beschäftigung unterbrochen und beginnen mit etwas Neuem.
- Neben ankommenden Telefonaten sind vor allem die ohne Unterlass eintreffenden E-Mails Einer Studie zufolge antworten 85 Prozent aller Angestellten innerhalb von zwei Minuten auf eine eingehende E-Mail, 70 Prozent sogar innerhalb von sechs Sekunden.
- Das spontane Beantworten von E-Mails ist im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv. Vor allem, wenn man Folgendes bedenkt: Nach einer Unterbrechung braucht es einige Zeit, bis die ursprüngliche Tätigkeit erneut aufgenommen wird. Meistens wendet sich der Arbeitnehmer zunächst noch zwei weiteren Aufgaben zu, bevor er wieder zur alten Beschäftigung zurückfindet. Dabei vergehen im Schnitt 20 bis 25 Minuten, und weitere acht Minuten dauert es, bis er gedanklich an seine ursprüngliche Aufgabe anknüpfen kann. Der wichtige Gedanke, den er vor der Unterbrechung hatte, ist ohnehin verloren. Wer mitgerechnet hat, erkennt: Es bleiben statistisch nur noch drei Minuten bis zur nächsten Unterbrechung. Das Ganze bezeichnen Arbeitswissenschaftler als den sogenannten Sägeblatteffekt.
- Hinzu kommt, dass über 50 Prozent aller begonnenen Arbeitsvorgänge meist aufgrund von Unterbrechungen nicht zu Ende geführt werden.
Unterbrechungen schaden der Arbeit mehr als Marihuana
Die Folgen der ständigen Unterbrechungen sind nicht verwunderlich: geringere Leistung, schlechtere Effizienz, häufigere Fehler, Nichterreichen der Tagesziele. Das Leistungsniveau sei sogar niedriger als unter Drogeneinfluss, ermittelte eine Studie des Londoner King’s College: Eine Kontrollgruppe, der man Marihuana verabreicht hatte, schnitt bei mittelschweren Aufgaben besser ab als die nüchterne Gruppe bei Unterbrechungen. Ohne Unterbrechungen waren sie dagegen den Drogenkonsumenten überlegen. Manche betrachten mittlerweile sogar das Reagieren auf Unterbrechungen als ihre eigentliche Arbeit. Als wüssten sie ohne Unterbrechungen gar nicht, was sie als Nächstes tun sollten. Jedenfalls scheint für viele das klingelnde Handy oder die neu eingetroffene Mail so verführerisch wie die Chipstüte vor dem Fernseher: Eigentlich will man nicht – und greift dann doch zu. All das führt auf Dauer zu Stress, psychischen Belastungen und Gesundheitsschäden bis hin zu Depressionen und Burnout.
Höchste Zeit, aufzuwachen – aber wie? Ein paar einfache und sehr hilfreiche Tipps bekommen Sie nächste Woche an dieser Stelle.