Zerstreuung zerstreut unsere Aufmerksamkeit
Als John um 6.30 Uhr in der Frühe vom Klingeln seines Smartphones aus dem Schlaf gerissen wird, greift er sofort nach seinem mittlerweile ständigen Begleiter, um als Erstes zu checken, welche SMS, WhatsApp-Nachrichten und E-Mails in der Inbox auf ihn warten und was es Neues bei Facebook gibt. Im Badezimmer hört er die Tagesnachrichten im Wechsel mit Staumeldungen und flotter Musik. Während er in der Küche frühstückt, liest er auf seinem iPad Kommentare auf Spiegel online, checkt noch einige weitere Mails und führt kauend schon die ersten persönlichen Telefonate. Die wichtigeren, bei denen Kaugeräusche weniger angemessen wären, erledigt er auf der Fahrt ins Büro, während im Hintergrund das Autoradio läuft. Dann beginnt der übliche Lauf im Hamsterrad des Büroalltags: die neuen E-Mails beantworten, die Präsentation vorbereiten, mit Kollegen reden, immer wieder telefonieren, manchmal sogar auf zwei Apparaten parallel, Meetings, während derer er per Smartphone weiter online aktiv ist … zwischendrin mal zur Abwechslung die Ferienhaussuche für den nächsten Urlaub. Mittags in der Kantine weiter im Netz unterwegs und die Verabredung mit Freunden fürs Wochenende klargemacht … und so geht es immer weiter durch den Tag, bis er gegen 18.30 Uhr in seiner Stammkneipe Zwischenstation macht, ein kühles Pils trinkt, mit Kollegen tratscht, während er auf seinem Display das Fußballspiel Hamburg gegen Schalke im Live-Ticker verfolgt. Endlich daheim, macht er es sich mit der Pizza vom Lieferservice und einem guten Rotwein vor dem Fernseher gemütlich: durch die Kanäle zappen, nebenbei im Web surfen, ein paar Telefonate führen, einer Kollegin via Handy beim Abschlussbericht helfen und so weiter. Die eigene mitgebrachte Akte schafft er nicht mehr ganz, da die Anziehungskraft des Thrillers dann doch stärker ist. Als anschließend eine Sendung über den „Verlust der Konzentration im digitalen Zeitalter“ beginnt, denkt er noch kurz, das sei sicher ein wichtiges Thema, doch um sich darauf zu konzentrieren, ist er zu geschafft. Und so macht er sich gegen 23.30 Uhr todmüde auf ins Bett, nicht ohne vorher noch einen letzten Blick aufs Smartphone zu werfen, eine letzte SMS zu beantworten, die Weckzeit einzugeben, um dann erstmals nach 17 Stunden das Gerät auszuschalten und einzuschlafen. Morgen früh wird es ihn pünktlich wecken – dann geht das Spiel von Neuem los.
Einer Studie amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler zufolge sind 80 Prozent der Arbeitnehmer heute nicht mehr in der Lage, sich nur auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Es scheint so, als wäre uns seit Beginn des 21. Jahrhunderts nach und nach die Fähigkeit zur Konzentration verloren gegangen. Wir leben mittlerweile in einer durchweg konzentrationsfeindlichen Welt. Wer, oder besser gesagt, was ist dafür verantwortlich? Hier die maßgeblichen Konzentrationskiller in unserem Leben, die allerdings nicht getrennt agieren, sondern sich gegenseitig beeinflussen, ja bildhaft gesprochen sogar kooperieren:
- Ausgangspunkt (und das ist nichts Neues) ist zunächst einmal die Tatsache, dass der Grundzustand unseres Gehirns nicht der der Konzentration ist, sondern der der Zerstreuung – also einer geteilten Aufmerksamkeit, die sich zwischen verschiedenen Dingen hin- und herbewegt. Wenn unser Gehirn nicht mit konkreten Aufgabe beschäftigt ist, wandert unsere innere Suchmaschine umher und scannt die Umwelt nach gefährlichen oder attraktiven Reizen. Schon unsere Vorfahren mussten in der Wildnis die Umgebung ständig nach lauernden Bedrohungen oder einer möglichen Beute absuchen. Sobald ein solcher Reizauftaucht, richtet sich unser Fokus darauf, um anschließend zum nächsten Reiz zu wechseln. So springt unsere Aufmerksamkeit wie ein Scheinwerfer hin und her und bleibt selten länger bei einer Sache – der sogenannte „wandernde Geist“, neudeutsch auch Mind-Wanderin.
- Diese Grundtendenz des Gehirns trifft ohne Airbag und Rückhaltesystem auf ein Phänomen unserer Zeit: Unser Geist wird zum Spielball der Fliehkräfte digitaler Medien. Er ist dem Sog und der Vielfalt der Reizüberflutung und Ablenkungen, denen er von morgens bis abends ausgeliefert ist beziehungsweise sich ihnen mehr oder weniger unbewusst selbst ausliefert, nicht gewachsen.
- Wir sind tagaus tagein einer ständig wachsenden Informationsflut ausgesetzt, die über die verschiedensten Medienkanäle auf uns einströmt. Unser Gehirn kann diese Fülle von häufig unzusammenhängenden und meist auch unwichtigen Informationen kaum verarbeiten. Oft haben wir gar keine Zeit, um darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten. Nach Ansicht des Psychologieprofessors Ernst Pöppel sind wir „überwältigt von zu viel Input und finden uns nicht mehr zurecht“.
- Verstärkt wird diese Informationsfülle durch die Ablenkungsdichte der digitalen Medienvielfalt: SMS, E-Mails, Push-Nachrichten, Google-Alerts und Pop-up-Windows pochen über Smartphones, Tabletsund Notebooks in ständigem Wettbewerb an die Türen unseres Bewusstseins. Social Media, Live-Ticker, virtuelle und digitale Spielwelten ziehen kontinuierlich unsere Aufmerksamkeit auf sich und verschlingen sie geradezu. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon warnte schon vor vielen Jahren: „Informationen verbrauchen die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Deshalb erzeugt der Reichtum an Information eine Armut an Aufmerksamkeit.“
- All das findet im ständigen Wechsel statt. Ohne lange bei einer Nachricht oder einem Film zu verweilen, zappen wir von Informationsquelle zu Informationsquelle mit der permanenten Frage im Nacken: „Bin ich auch wirklich im richtigen, nämlich im spannendsten Programm? Verpasse ich nicht gerade etwas auf einem anderen Kanal oder in einem anderen Chatroom im Netz?“ Wer am Sonntagabend das Hochamt der Fernsehunterhaltung, den Tatort, sieht, surft nicht selten parallel im Netz, kommentiert, was er gerade sieht, und liest die Beiträge anderer User. Der Film allein genügt uns nicht mehr. Viele sind sogar stolz darauf, ständig hin und her zu switchen und überall mit dabei zu sein (wenn auch nirgendwo richtig, doch dazu kommen wir noch).
Und so erliegen wir im Dauerfeuer medialer Reize einer immerwährenden Chaosberieselung. Zerstreuung zerstreut – und zwar unsere Aufmerksamkeit!